Die Schauspielerin
(spätester Auftritt)
Sie betritt, die Arme ausgebreitet, erhobenen Hauptes den alles andere als sanften Wind und denkt: Man soll sich ja von Wahnvorstellungen nicht immer gleich verrückt machen lassen. Der Wind hat Fronten, kalte und warme, sie geht dazwischen.
Das sind die Vorhänge ihrer Bühne. Alle Menschen sehen zu. Man filmt sie von oben und unten. Kameras sitzen in künstlichen Erdtrabanten und im kurzgeschnittenen Gras. Der Ton fehlt; das macht der Schauspielerin aber nichts aus. Sie hört genug: Im Kopf spricht jedes Wort zu ihr, das im Skript steht. Das ist besser, als irres Stimmenhören wäre - zu den vielen Vorzügen dieses Dramas gehört allerdings, daß es ihr manchmal Angst macht mit der überzeugenden, dicht an die Oberfläche der Verse herangeholten Abbildung von schizoaffektiven Zuständen, zerfallendem und regressivem Ich und Du, raschem Wechsel von apathischer Hoffnungslosigkeit zu euphorischer Raserei, hölderlinesken Ellipsen, Wutanfällen, Manie, Paranoia – die Kritikerin, die ihr von allen auf der Welt die liebste ist, hat geschrieben, das Stück sei neben der Lucia-Joyce-Biographie von Carol Loeb Shloss das beim Beschreiben exakteste und beim Urteilen zurückhaltendste Werk über Irrsinn in den letzten zehn Jahren.
So wichtig wie der Text, wie Zeilenzahl, Konkordanz, Register, Lesartenverzeichnis, Fußnotenapparat und Palimpsest ist der Schauspielerin die Musik, die alle Menschen hören, während sie zusehen. Es kommen da keine langen Walgesänge auf, das Summrollen, das die Arme und Beine des musizierenden Trios erzeugen, macht jedes Fiepen zunichte, das sich mit Ozeanischem aufspielt. Komische Aufführungspraxis: Applaus gibt es keinen, nur ein Flüstern wie mitten in der Grünen Hölle. Der alles andere als sanfte Wind bauscht den weiten Mantel der Schauspielerin; sie hat, um nicht davongeweht zu werden, zwei Bücher in den Manteltaschen: Erstens die ausgewählten Texte Robespierres mit einer schön verlogen liberalen Einleitung von Carlo Schmid und zweitens ein mit schauderhaften Kinderbuchzeichnungen illustriertes Bändchen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, verkündet von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948.
Im Vollbesitz der Würde deklamiert die Schauspielerin: „Wenn man erst mal tot ist, ist es zum Sterben auch zu spät.“ Der Satz soll einen Engel imitieren, der haute-contre singt; er ist schwach tanzbar fürs richtige Tanzpaar. Eine harmonica de bois, weiß die Schauspielerin, schüttelt an dieser Stelle im Soundtrack schwere Klopftropfen aus dem Mollmanual, und die Streichersaiten lassen sich so lange streichen, bis sie sprechen (ich kannte, denkt die Schauspielerin, beide Augen fest geschlossen, einen Gitarristen, dessen Instrument konnte das Wort „Schweinfurt“ sagen).
Sie zupft an ihrem Mantel, der sich vor ihr her in sich selbst verheddert, impazientemente, es hat dies alles jetzt eine gewisse Eile, denn in sieben bis dreizehn Minuten Musik, weiß sie, paßt möglicherweise schon die vollständige Entwarnung: Keine Angst, Sachzwänge gibt es fast überhaupt nicht, die sind nur Ausreden.
Das Trio hat ihr bei den Sessions beigebracht: Schwebenlassen heißt nicht Wartenmüssen, sondern Angreifenkönnen. Man nennt diese Lektion, praktisch angewandt, „imbroglio“. Richtig genutzt ist Rhythmus nur ein trockeneres Wort für Melodie. Jetzt spielt sie, merkt sie, nicht mehr im Freien, sondern auf den Bahnen der stehenden Welle aus Harmonium, Baß und klarem Flirren.
„Der Teufel hat sich eine Quietschzerrung geholt“, schimpft sie vor lauter dunkelblauen Vögeln, die sich über Stürme unterhalten. Tote Federn hebt sie dann vom Boden auf, fährt sich damit übers Gesicht, das kommt als Schauder intramuskulär und subnarkotisch in ihr an. Sie ist in der musikalischen Seite ihrer Rolle zugegen wie sie heute morgen im Kostümfundus anwesend war. Überall Obertöne, Unterhemden; ein buntes Magnetband hat sie sich vorsorglich um den flachen Bauch gewickelt. Wer holt mich weg, wenn die Vorstellung aus ist, die Karawane der Bläser?
„Oder gleich die Gottheit“, sagt sie, und nimmt deren Gravitas an, so daß sich buschige Tutti vor ihr zu Boden werfen im leiseren Nachhall - was war das? Gerade ging ein schüchterner Bossa seitwärts aus der Hauswand und als Schriftzug in die Litfaßsäule. Fremde Funkiness darf daddeln, was sie mit dem Hintern denkt. Endlich kommt die Schauspielerin vor einem schwarzen Fenster zu stehen, das den Blick auf eine unterirdische Baustelle gestattet. Darin findet sie noch mehr Baß, dieser hier ist ein Kettenfahrzeug.
Sie verbeugt sich vor sich selbst, weil das schwarze Fenster ihre Gestalt so gut spiegelt, und hinter ihr geht einer vorbei, der die Übertragung der Aufführung auf dem Handyschirm verfolgt. So hört sie endlich doch noch ihren Soundtrack mit – vom Xylophon lernen, gesteht sie sich ein, heißt sprechen lernen, und drüben im Klavier ist Puppensitzung (man berät den Abschlußball des Systems der Dinge).
Die Schauspielerin, nicht mehr ganz bei der Sache, gedenkt des toten Zenmeisters Robert Anton Wilson, während sie ein paar Suren aus der Ziehharmonielehre rezitiert und auf der müder werdenden Zunge einen Rest der fast vergessenen Jahre von Reis und Salz schmeckt. „Feldspat“, sagt sie beiseite, „aus dem Rockmusikgebirge“, aber der Rest ihrer Worte geht langsam in gemurmelte Erläuterungen zum nicht nachprüfbaren Wissen kleinster silberner Gliedertiere über, während die Szenerie verdunkelt wird.
Die qualifizierte Heysagerin von der Regie hält dem Publikum, das auf die graugewordenen Schirme schaut, noch einiges Nötige aus dem Off vor, recht gut bei Stimme: Ho, hey, Gespensterschlotterabdankung.
Die Kritik macht sich bereits ans Schreiben; man hat vor allem bemerkt, daß die Schauspielerin mit ihren Gesten darauf hinzuweisen nicht umhinkam, daß in der Begleitmusik die Frau eher pünktchenhaft gesungen und manchmal geknarrt habe, während der beigeordnete Mann überwiegend pelzig gewesen sei. Man hat nicht alles verstanden; heute bevorzugen die meisten ja Flughafensinfonik auf einer Art Grundierung von weit abgelegenem Triebwerksbrüllen vor verrutschtem Schummerknautsch.
Die Schauspielerin ist schwimmen gegangen. An der Mündung ihres Stroms, wo die Fernsehumschaltwackelkontaktstörgeräusche nisten, lappt rotgoldner Cellosirup über eine Landzunge. Die Schauspielerin hat ein Geheimnis; aus ihr wird Leuchten kommen. Schon brennt der Wasserstoff.
Dietmar Dath